Donnerstag, 5. Februar 2015

Auslandsjournal 01/2015

Il Calcio moderno - Gladiatorenkämpfe auf Rasen

Wer an Italien denkt, der kommt irgendwann auf Fussball. Nicht zuletzt, weil die Squadra Azzuri im Jahr 2006 in unserem Land Weltmeister wurde. Unvergessen die Tore von Fabio Grosso und Alessandro Del Piero in der 119. + 120. Minute und das damit verbundene Ausscheiden der Nationalelf bei der "Heim-WM".
Aber vorerst genug der Vergangenheitsschwelgerei. Aktuell liegen die letzten Erfolge mittlerweile schon fast 9 Jahre zurück. In der FIFA-Weltrangliste rangiert die Mannschaft von Antonio Conte nur noch auf Platz 11.
Bolzplatz alla italiana

Doch auch der italienische Vereinsprofifussball hat in den letzten Jahren deutlich abgebaut. Waren italienische Clubs wie beide Mailänder Vereine, AS Rom und Juventus Turin Dauerabonnenten auf die europäischen Titel, geht da heute nicht mehr viel. In der Länderwertung der Champions League bzw. im Pokal der Landesmeister nimmt Italien nach Spanien den zweiten Platz mit 12 Titeln und 26 Finalteilnahmen ein. In der Länderwertung des Europapokals steht man gar den ersten Platz mit 9 Titeln und 14 Finalteilnahmen.
Diese Entwicklung lässt sich auch am aktuellen Zustand der Serie A ablesen. Die Zuschauerentwicklung nimmt seit Jahren kontinuierlich ab. Begaben sich in der Saison 1984/85 noch durchschnittlich 38.871 zahlende Zuschauer in die Stadien der Erstligisten, so waren es 10 Jahre später nur noch 29.154 und wiederum 10 Jahre später nur noch 26.098 Zuschauer. Absoluter Tiefschlag für die Serie A war die Begegnung Empoli gegen Cagliari im Dezember 2007, als nur noch 786 Fussballfreunde für ein Erstligaspiel Eintritt berappen wollten. 2012/13 waren durchschnittlich 23.300 zahlende Gäste in den Stadien der ersten italienischen Liga.
Die Gründe dafür sind vielschichtig. Natürlich kann es auf die vielen Übergriffe von Hooligans und Ultras geschoben werden, oder auf die maroden Sportanlagen im Stiefelland. Meiner Meinung nach sind es einfach nur die überteuerten Eintrittspreise und die bescheidenen Anstosszeiten der Spiele, welche durch die örtlichen Fernsehanstalten vorgegeben werden.
Nachdem die Fakten jetzt etwas klarer sein sollten, können die Eindrücke, die dem halben Autorenkollektiv auf der Apenninhalbinsel entgegen geschleudert wurden, dargelegt werden.
Heimstätte des Roma Rugby Klub in EUR

Der Stammautor und COO von sonhafer wollte seinen Ehrentag nicht im kalten, nassen und windigen Dresden verbringen. Also sprang er mit seiner besseren Hälfte in den Flieger und landete etwa 1 1/2h später in der Caput Mundi, der Ewigen Stadt, der Haupstadt Italiens, kurz: Rom.
Wie es der Zufall so will, fiel unser Anreisetag genau auf den Tag des römischen Derbys. Das heißt, Lazio gegen AS, Blau-Weiß gegen Gelb-Rot oder Adler gegen Wölfe. Dass es sich bei diesem Derby um eines der heißesten der Welt handelt, braucht man hier nicht weiter zu erwähnen und sollte jedem fussballaffinen Menschen klar sein. Das Fussballmagazin 11 Freunde hat in seiner Ausgabe vom Februar 2010 "Il Derby Capitolino" auf Platz 12 der härtesten Derbys der Welt gewählt. Noch vor den Spielen AC gegen Inter Mailand, Rapid gegen Austria Wien und Manchester United gegen City. Da unsere Ankunftszeit leider etwas verspätet war, erreichte man die Hotellobby zur 78. Minute. Woher das so genau bekannt ist? Klar guckte der Rezeptionist auf einem kleinen Bildschirm das Spiel. Am nächsten Tag kannten alle Zeitungen nur ein Thema: Das Derby! Das Ergebnis von 2:2 konnte allerdings nur als Randnotiz aufgenommen werden. Hatten sich doch einige Leute der Wölfe recht arg mit den anwesenden Carabinieri in die Wolle gekriegt, fliegende Bengalos und andere unbeflügelte Gegenstände in der Luft inklusive. Acht gelbe Karten sprechen eine klare Sprache wie hitzig es nicht nur auf den Rängen zugegangen sein muss. Dass die Laziali ihre 2:0 Halbzeitführung nicht zu drei Punkten verwerten konnten, lies die Anhänger der Roma sicherlich etwas zu tief in die Rotweinflasche gucken.
Stammleser könnten sich jetzt fragen, warum der Stammautor nicht selber im Stadion anwesend war. Ganz einfach: das Geld! Erstens wäre ein früherer Flug deutlich teurer gewesen und zweitens gab es Karten auf einschlägigen Internetportalen erst ab 220 €uro p.P. Das ist leider für den Geldbeutel des COO zu viel.
Stadio Flaminio...
 

Nichts desto trotz, wurde bei jeder Gelegenheit versucht, dem Ursprung der Ultrakultur und dem Calcio auf die Schliche zu kommen. Rom an sich ist nicht gerade die sauberste Stadt. Da liegt der Müll auf der Straße, die Wände sind beschmiert und vor allem in den Nebenstrassen riecht es streng nach Urin. Leider konnten nur sehr vereinzelt Sticker der ansässigen Gruppierungen gesichtet werden. Trotzdem gibt es in Dresden einen viel größeren Bezug in der Straßenbemalung zum ansässigen Verein als in Rom. Sicherlich sieht es in den Außenbezirken anders aus als in der Innenstadt, trotzdem sehr dünn! Selbstverständlich wurde das übliche Touristandardprogramm absolviert. Inklusive Pantheon, Spanische Treppe, Trevibrunnen und Vatikanstadt. Allerdings gab es auch noch andere Besichtigungspunkte, die ich mir nicht entgehen lassen wollte. 
...leider nicht mehr ganz auf dem neusten Stand

Beginnen möchte ich mit dem Kollosseum. Dieser Prachtbau wurde ca. 72 bis 80 n.Chr. erbaut und bot damals bis zu 50.000 Zuschauern Platz. Andere Quellen sprechen von bis zu 70.000 Zuschauern, die sich bei Tierhatzen, Gladiatorenkämpfen und nachgestellten Seeschlachten erfreuen konnten. Die Einweihung erfolgte durch ein 100-tägiges Fest, welches der Kaiser Titus veranstaltete. Das Kolosseum würde heutzutage als Sportstätte mit vier Rängen überzeugen und wäre höchstwahrscheinlich einzuordnen wie das Camp Nou in Barcelona oder das Schlauchboot am Münchner Stadtrand. Man bekommt einen ganz imposanten Eindruck davon, dass die Italiener schon sei langer Zeit Stadien bauen können. Dass vor etwas weniger als 2.000 Jahren keine Sportveranstaltungen ausgetragen wurden, kann sicherlich der etwas archaischen Gesellschaftsform zugeschrieben werden. Allerdings wurde höchstwahrscheinlich auch bei Gladiatorenkämpfen gerannt, gesprungen und der ein oder andere Speer geworfen, was wiederum den Bogen zur Leichtathletik und somit zum Sport der Neuzeit spannt.
Einen anderen Beleg der eher früheren italienischen Stadionbaukunst ist in der ca. 5 Quadratkilometer großen Parkanlage Villa Borghese zu finden. Der Piazza di Siena wurde im frühen 19. Jh. fertiggestellt und diente in den Jahren 1907 bis 1909 als Veranstaltungsort für die italienischen Leichtathletikmeisterschaften. Allerdings ist die Laufbahn nur 370,70m lang gewesen. Seit 1926 finden auf dem Platz diverse Reitturniere statt, so unter anderem die International Horse Show "Piazza di Siena".
Allein durch schiere Größe beeindruckend
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Das Kolosseum

Etwas versteckt im äußeren Stadtgebiet von Rom findet sich noch die verlassene Stadionanlage des Stadio Flaminio. Diese Sportstätte ist zwar seit 2011 nicht mehr in Benutzung, strahlt aber immer noch den Charme vergangener Fußballschlachten aus. Eine überdachte Haupttribüne, eine nach oben geschwungene Gegentribüne, verwitterte Kassenhäuschen und an allen Orten Stacheldraht an den Zäunen ließen die Augen des Autors erstrahlen. Die Flutlichtmasten stehen immer noch wie Monumente besserer Tage an Ort und Stelle, wo einst AS und Lazio Rom gegeneinander antraten (Allerdings nur während des Umbaus des Olympiastadions 1989/90) und wo bis zuletzt knapp 25.000 Zuschauer die Spiele der italienischen Rugby-Nationalmannschaft erlebten. Im Inneren des Stadions befindet sich ein Hallenbad und Anlagen für Ringer, Fechter und Boxer. 
Weitere Sportanlagen in Rom sind der Circus Maximus, der PalaLottomatica und das Foro Italico. Bemerkenswert an ersterer ist, dass sie bis heute die größte Sportanlage aller Zeiten ist. In der Spätantike fanden hier bis zu 385.000 Menschen Platz, um sich während der Wagenrennen zu amüsieren. Sehr beeindruckend, wenn man sich vor Augen hält, dass in der sächsischen Landeshauptstadt vor 1.500 Jahren noch nicht viel mehr als ein paar Hütten und viel Sumpf vorhanden waren.
Piazza di Siena

Bei einem Ausflug in den Süden des Stiefellandes kam der Autor auch in die Region Kampanien und deren Hauptstadt Neapel. Mit etwas weniger als einer Million Einwohnern ist die Stadt am Vesuv die drittgrößte in Italien. Im Allgemeinen wird Neapel gern mit Arbeitslosigkeit, Verkehrschaos und organisierter Kriminalität in Verbindung gebracht. Das die Annahme mit dem Verkehrschaos eine Tatsache ist, davon konnte sich der Autor per Bus selber überzeugen. Da diese Zeilen kein Reisebericht darstellen sollen, sondern sich mit der schönsten Nebensache der Welt befassen, soll hier auch Schluss mit der Reiseführerei sein. 
Die Società Sportiva Calcio Napoli, kurz SSC Neapel trägt seine Heimspiele im Stadio San Paolo aus. 1926 aus einer Fusion hervorgegangen, gilt er als der erfolgreichste Klub Süditaliens und konnte über lange Zeit den erfolgreichen Vereinen aus dem Norden Italiens Paroli bieten. Die goldenen Jahre begannen mit der Verpflichtung von Diego Armando Maradonna 1984. Diese Verpflichtung war mit knapp 7,5 Millionen $ die bis dahin teuerste der Fussballgeschichte. Dass diese Summe heutzutage nur noch Peanuts sind, zeigt der neueste Transfer in der Bundesliga, bei dem ein Werksklub schmale 32 Millionen €uro für einen Weltmeister auf den Tisch eines englischen Erstligisten blätterten. Wie dem auch sei...
Nach der Verpflichtung des Argentiniers begann der Verein Titel zu sammeln.
Der Circus Maximus, das was von ihm übrig ist.
Bis schließlich der UEFA-Pokal 1989 gewonnen werden konnte. Nach Maradonnas Abgang begann auch der Abstieg der Himmelblauen. Bis schließlich 2004 der Konkurs und die damit verbundene Insolvenz zu Buche standen. 70 Millionen €uro Schulden drückten den Verein, der sich unter Napoli Soccer neu gründete und damit den Wiederaufstieg zu einer italienischen Topmannschaft schaffte. Aktuell gehört der SSC Neapel zu den großen sechs in der Serie A. Hinter den mailänder und römischen Vereinen, sowie Juventus Turin.

Die Heimstätte ist, wie schon erwähnt, das Stadio San Paolo. Mit einer zugelassenen Kapazität von 60.240 Zuschauern ist es das Drittgrößte in Italien. In der Saison 2013/14 hatte Neapel einen Schnitt von 40.918 zahlenden Zuschauer und somit den zweitbesten hinter Inter Mailand. Das allzu verbreitete Vorurteil, dass die Mentalität der Fangruppen im Süden deutlich fanatischer ist, kann in Neapel bestätigt werden. Der SSC kann sich mit der Tatsache rühmen, zwei (fast immer) gefüllte Fankurven hinter sich stehen zu haben. Die Curva A und B sind räumlich von einander getrennt und stimmen während der Spiele völlig unterschiedliche Lieder an. Eine Rivalität besteht im Gegensatz zu anderen Vereinen nicht. Älteste Gruppen sind die Ultras Napoli 1972 und Fedayn 1979.
Reviermarkierung in Neapel
Diese ausgeprägte Fankultur sieht man auch im Straßenbild. Während man in Rom schon gezielt nach Aufklebern, Tags und großen Graffiti suchen musste, ist in der süditalienischen Stadt am Golf der Verein allgegenwärtig. Dennoch spielt die Rivalität zwischen Norden, Süden und der Haupstadt eine enorm wichtige Rolle im italienischen Fussball und es gibt allzu oft Krawalle und Gewalt vor und nach den Spielen. Unvergessen ist der provozierte Spielabbruch beim Römer Derby im März 2004, als einige Ultras das Gerücht eines von der Polizei überfahrenen Kindes in Umlauf brachten und den Spielern ein Ende des Spieles nahelegten. Sollte dies nicht passieren, drohe ihnen ein Platzsturm und Backenfutter von beiden Seiten. Wie man sieht, können sich also doch die größten Rivalen zusammentun und an einem gemeinsamen Strang ziehen. Der Hintergrund war in diesem Fall eine drohende Insolvenz beider Vereine. Ob dieser Grund 19 Verletzte rechtfertigt, sei an dieser Stelle dahin gestellt, zeigt aber auch den Fanatismus der italienischen Tifosi. Dieser Fanatismus führte auch zu einer Bewegung, ohne die der deutsche Fussball und die deutschen Stadien nicht mehr wieder zu erkennen wären: die Ultras. Diese Bewegung geht zurück bis in die frühen 1950er und 60er. Die vielleicht ältesten Ultragruppen sind die Fedelissimi Granata 1951 aus Turin und die Ultras Sant Alberto aus Genua. Gruppen mit mehr als 10.000 Mitgliedern waren früher keine Seltenheit. 2007 gab es einen Knacks in der Geschichte der italienischen Ultras, als der Laziali Gabriele Sandri auf einer Raststätte von einem Polizisten erschossen wurde. Danach gab es eine noch nie da gewesene Repressionswelle seitens der Polizei und der Lega-Pro (vergleichbar mit der DFL). Es wurde fast alles verboten, was die Fankultur ausmacht. Megaphone, Pyrotechnik und Choreos.
Reviermarkierung in Rom
Spruchbänder mussten angemeldet werden und die Tessera del Tifoso wurde eingeführt. Diese war personalisiert und erlaubte es nur noch Inhabern Auswärtsspiele seines Vereins zu besuchen. Die Spontanität und das Wilde, welches die Ultra-Bewegung ausmachten, wurden damit von den Funktionären und Politikern ausradiert. Aus diesem Grund hatten die Ultras in Italien die Wahl: entweder weiter gegen das System kämpfen und gegebenenfalls die Auflösung oder sich beugen und seine Ideale verraten. Heute gibt es noch 445 registrierte Ultragruppen mit mehr als 74.000 Mitgliedern. Ob sich dadurch der Hooliganismus aufhalten lässt, ist angesichts der oben beschriebenen Zustände beim Römer Derby sicherlich mehr als fragwürdig. 

Eine interessante Randnotiz gab es noch, als der Autor am Flughafen in Rom auf seinen Rückflug wartete. Begaben sich doch erstaunlich viele junge Menschen, hauptsächlich Männer, kurz vor Abflug einiger inneritalienischen Flüge zum Gate. Betrachtete man sich die Leute genauer, so fiel auf, das kaum einer Handgepäck mit hatte und sich auch sehr oft am Flughafenshop mit reichlich Bier eingedeckt wurde. Um den Bauch hatten einige Schals gebunden und auch sonst waren sie recht sportlich in dunklen Kapuzenpullovern und Jogginghosen gekleidet. Anscheinend fahren viele Fans nicht wie in Deutschland oder anderswo mit dem Zug oder Auto, sondern nutzen die Luft als Verkehrsweg. Das mag sicher auch daran liegen, wie schlecht das italienische Schienennetz ausgebaut und teuer die Zugtickets sind. 
Am Ende bleibt ein Ausflug in ein Land, der einem in mehrerer Hinsicht in Erinnerung bleibt und den Tellerrand (der Suppe Grenze) etwas erweitert hat.